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Treverer

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Interview
„Langfristig wird die Arbeit verschwinden“

US-Ökonom Jeremy Rifkin: Deutschland führt Scheindiskussion



Stuttgart - Es gibt kein größeres Problem in Deutschland und Europa als die Massenarbeitslosigkeit. Politiker aller Parteien versprechen Abhilfe, doch die Zahl der Menschen ohne Beschäftigung nimmt seit Jahren immer nur zu. Wo soll das enden? Der US-Professor Jeremy Rifkin befasst sich seit Jahrzehnten mit dieser Frage und ist gesuchter Ratgeber von Regierungen und Konzernen. Sönke Iwersen fragte ihn nach der Zukunft der Arbeit.

Herr Rifkin, eines Ihrer Bücher heißt: „Das Ende der Arbeit“. Das meinen Sie doch nicht wörtlich, oder?

Allerdings meinte ich das wörtlich. Als ich dieses Buch
1995 schrieb, waren weltweit 800 Millionen Menschen arbeitslos oder unterbeschäftigt. 2001 waren es schon mehr als eine Milliarde. Die Entwicklung ist eindeutig.

Aber es gibt doch Gewinner. In Europa gilt England als Vorbild. China wächst in irrem Tempo. Und in Ihrem Land läuft es auch gut. Die amerikanische Arbeitslosenquote ist doch traumhaft niedrig.

Das können Sie alles vergessen. Unsere Quote ist niedriger als Ihre, das stimmt. Aber zu welchem Preis? Das schmutzige Geheimnis hinter dem US-Wirtschaftsboom in den 90er Jahren ist die wahnsinnige Verschuldung der privaten Haushalte. Die Verbraucherkredite haben jedes Jahr um neun Prozent zugenommen. Die Mehrzahl der Amerikaner hat heute nicht mal 1000 Dollar an Rücklagen. 2005 wird die Zahl der Privatinsolvenzen die Zahl der Ehescheidungen übertreffen.

Wenn die USA nicht als Vorbild taugen, dann aber England? Dort gibt es so wenig Arbeitslose wie seit 30 Jahren nicht mehr.

England ist dasselbe in grün. Der durchschnittliche Engländer gibt heute 120 bis 130 Prozent seines Jahreseinkommens aus. Das ist Wirtschaftswachstum per Kreditkarte.

Bleibt China. Keine Wirtschaft wächst so stark wie die der Chinesen.

China ist faszinierend, ja. Aber schauen Sie mal genau hin. In den letzten sieben Jahren sind 15 Prozent aller chinesischen Jobs verschwunden. Auch der chinesische Boom kann an der Wahrheit nichts ändern.

Welche Wahrheit meinen Sie?

Die Wahrheit über die Unumkehrbarkeit dieser Entwicklung. Langfristig wird die Arbeit verschwinden.

Warum?

Schauen Sie in die Vergangenheit. Zehntausend Jahre haben sich Menschen andere Menschen als Sklaven gehalten. Nun reden wir uns gern ein, dass die Sklaverei abgeschafft wurde, weil wir so human geworden sind. Aber die Wahrheit ist: Durch die industrielle Revolution ist die Sklaverei überflüssig geworden. Ab einem bestimmten Zeitpunkt war es billiger, den Ofen eines Kohleofens zu füllen, als den Mund eines Sklaven.

Und da sehen Sie Parallelen zu heute?

Wir sind mitten in einer Umwälzung, die die industrielle Revolution noch übertrifft. Durch die ersten Mechanisierungsschübe verloren Millionen von Menschen ihre Jobs und wanderten vom Land in die Städte, um dort mit den Maschinen zusammen zu arbeiten. Aber die Computer und Informationstechnik von heute machen immer mehr Menschen ganz überflüssig. Selbst die billigste menschliche Arbeitskraft ist teurer als die Maschine.

Aber entstehen durch die neue Technik nicht auch neue Arbeitsplätze?<

Das ist die Hoffnung, an die wir uns seit Jahrzehnten geklammert haben. Die kapitalistische Logik sagt, dass technologischer Fortschritt und gesteigerte Produktivität alte Jobs vernichtet, dafür aber mindestens genauso viele schaffen. Aber die Zeiten sind vorbei.

Sind Sie da sicher?

Ganz sicher. Sehen Sie, ich verdiene einen Teil meines Einkommens damit, die Chefs großer Konzerne zu beraten. Wenn ich die frage, ob sie in Zukunft noch Zehntausende von Mitarbeiter haben werden, dann lachen die laut los. Die Wirtschaftsführer wissen längst, wo die Reise hingeht.

Wohin geht sie denn?

Wir vollziehen gerade einen Wandel hin zu einem Markt, der zum allergrößten Teil ohne menschliche Arbeitskraft funktioniert.
Bis 2010 werden nur noch zwölf Prozent der arbeitenden Bevölkerung in Fabriken gebraucht. Bis 2020 werden es weltweit nur noch zwei Prozent sein.

Das klingt unglaublich.

Nicht unglaublicher, als was wir schon erlebt haben.
Von 1982 bis 2002 stieg die amerikanische Stahlproduktion von 75 auf 102 Millionen Tonnen. Im selben Zeitraum nahm die Zahl der Stahlarbeiter von 289.000 auf 74.000 ab. In den 20 größten Volkswirtschaften der Erde sind zwischen 1995 und 2002 mehr als 30 Millionen Arbeitsplätze abgebaut worden. Wohin sie schauen, dasselbe Bild: Die Produktion steigt, die Produktivität steigt, aber die Arbeitsplätze nehmen ab.

Aber was ist mit Service, mit Dienstleistungen, mit hochqualifizierten Jobs?

Die haben längst dasselbe Problem. Die amerikanische Telefongesellschaft Sprint ist seit Jahren dabei, menschliche Vermittler durch Spracherkennungsprogramme zu ersetzen. 2002 sprang die Produktivitätsrate bei Sprint um 15 Prozent nach oben, der Gewinn stieg um 4,3 Prozent, und 11.500 Jobs wurden abgebaut. Die Net-Bank in Australien hat 2,4 Milliarden Dollar Einlagen. Eine herkömmliche Bank dieser Größe hätte um die 2000 Angestellte. Aber die Net-Bank benötigt nur 180 Mitarbeiter.

Wie kann so etwas funktionieren?
Dank Internet, Satellitentechnik und Breitbandleitungen kann die Information heute praktisch mit Lichtgeschwindigkeit um den Globus rasen. Es gibt da eine nette Formulierung von Paul Saffo vom Institute für die Zukunft in Kalifornien. Er sagt, dass sich das Geschäft in den 80ern darum drehte, dass Menschen mit Menschen reden.

Jetzt geht es um Maschinen, die mit Maschinen reden. Der Mensch wird überflüssig.

Sie beraten doch Regierungen. Was sagen Politiker eigentlich, wenn Sie denen von Ihren Thesen erzählen?

Mit den Politikern ist das so eine Sache. Im Jahr 2000 haben sie die Europäischen Regierungschef getroffen und beschlossen, Europa bis 2010 zum leistungsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Und was ist geschehen? Nicht viel.

Und das liegt daran, dass die Politiker ihnen nicht zugehört haben?

Es liegt daran, dass viele Politiker Europa lieber als Sündenbock missbrauchen, anstatt sich dem Grundproblem zu stellen: Die Arbeit verschwindet. Das will kein Politiker seinen Wählern erzählen.
Statt dessen betet man immer wieder dieselben drei Pseudotheorien herunter.

Drei Pseudotheorien?

Immer dieselben drei, ja. Erstens: Wir verlieren in unserem Land Jobs, weil die bösen Unternehmer Stellen ins Ausland verlagern. Zweitens: Wir haben genug Jobs, die Leute sind nur nicht richtig ausgebildet. Und drittens: Wir haben zu wenig Jobs, weil die Sozialabgaben zu teuer sind. Alle drei Argumente sind absurd.

Wissen Sie, dass genau diese Argumente gerade in Deutschland diskutiert werden?

Natürlich weiß ich das. Ihre Regierung hat mich ja gerade erst wieder zu einem Vortrag eingeladen. Aber der Reihe nach.
Erstens: Die Zahl der Jobs die in Deutschland verschwinden weil sie zum Beispiel nach Osteuropa oder China verlagert wird, ist verschwindend gering. Sie macht gerade mal ein Prozent der abgebauten Stellen aus. Der wirkliche Jobkiller ist der technologische Fortschritt. Aber davon hören Sie von den Politikern kein Wort. Maschinen machen sich als Buhmann eben schlechter als Chinesen oder Polen.

Was ist das zweite Pseudoargument?

Das ist auch so eins für die Wahlreden: Wir müssen die Leute nur richtig ausbilden oder weiterbilden und schon ist das Beschäftigungsproblem gelöst. Nehmen wir mal an, man könnte tatsächlich alle fünf Millionen Arbeitslosen in Deutschland so fortbilden, wie sich die Politiker das vorstellen. Was wäre denn dann? Es gebe immer noch nicht genug Jobs. Die Zeiten der Massenarbeit ist vorbei. Wir werden nie wieder Tausende von Leuten sehen, die aus den Fabriktoren strömen. In Zukunft wird Arbeit etwas für die Eliten sein. Für besondere Aufgaben wird man immer noch die Top-Ärzte, Top-Anwälte oder Top-Designer brauchen. Aber Durchschnittsqualität kann ein Computer oder ein Roboter billiger liefern.

Wo liegt der dritte Fehler?

Ah, die sozialen Systeme. Darüber sprechen Sie hier schon seit Jahren, nicht wahr? Nun, ich will nicht sagen, dass es in Deutschland keinen Reformbedarf gibt. Aber wenn jemand daran denkt, den Weg der USA einzuschlagen, dann kann ich davor nur warnen. Je härter sie die Sozialsysteme beschneiden, desto eher tauchen die Probleme an anderer Stelle wieder auf. Schlechtere Gesundheit, größere Armut, weniger Sicherheit, mehr Kriminalität. Natürlich ist die US-Arbeitslosenquote niedriger als die deutsche. Aber bei uns sitzen allein zwei Millionen Leute in den Gefängnissen. Meinen Sie, das ist keine versteckte Arbeitslosigkeit? Glauben Sie mir, sie sind hier immer noch besser dran.

An den Problemen ändert das aber nichts - und Sie sagen, dass alles noch schlimmer wird. Sehen Sie sich eigentlich als Apokalyptiker?

Weil ich das Ende der Arbeit vorhersage? Nein. Erstens: Ich ziehe nur logische Schlüsse aus Dingen, die ich in der Wirtschaft jeden Tag beobachten kann. Und zweitens: Ich halte das Ende der Arbeit durchaus für eine positive Sache.

Aber was sollen all die Leute denn machen, wenn sie keine Arbeit mehr haben?

Sehen Sie, so verbogen sind wir heute. Ich sage, die Menschen werden für den Produktionsprozess nicht mehr gebracht und Sie fragen, was sie dann bloß machen sollen. Als ob es die Erfüllung des Menschen wäre, Tag für Tag dieselbe stupide Tätigkeit auszuführen.
Dasselbe Blech zu formen oder dieselben Fragen am Telefon zu beantworten. So eng definieren wir uns. Ich sage: Lasst die Maschinen das übernehmen. Aber viele Leute können sich einfach nicht vorstellen, was sie ohne Arbeit anfangen sollen. Das ist traurig.

Entschuldigen Sie, aber die Frage ist doch nicht, was die Menschen mit ihrer freien Zeit anfangen, sondern mit welchem Geld Sie ihre Miete und ihr Essen bezahlen, wenn alle Jobs verschwinden.

Sie haben ja Recht. Also, es gibt verschiedene Ansätze. Besonders wichtig ist der so genannte Nonprofitsektor. Gemeint sind hier Aktivitäten von der Sozialarbeit über die Wissenschaft, Kunst, Religion bis hin zum Sport. In den Niederlanden sind heute bereits 12,6 Prozent aller Vollzeitstellen im Nonprofitsektor angesiedelt. In Deutschland sind es erst 4,9 Prozent. ier gibt es ein Potenzial für Millionen von Arbeitsplätzen.

Aber wie soll dieser Nonprofitsektor finanziert werden?

Durch Steuerumschichtung. 90 Prozent der Regierungseinnahmen weltweit stammen aus der Besteuerung von Arbeit und Kapital. Wir müssen viel stärker zur Besteuerung von natürlichen Ressourcen kommen. Warum sollen sich die Unternehmen einfach frei bedienen? Eine Besteuerung von Ressourcen würde sowohl zur Schonung der Umwelt führen wie zur Senkung von Unternehmensgewinnen. Die Steuereinnahmen könnten dann in den Nonprofitsektor fließen und dort Mehrbeschäftigung stimulieren. Man könnte auch über etwas anderes nachdenken. Wenn Maschinen immer mehr Menschen ersetzen, warum sollte es in Zukunft nicht genau so eine Maschinensteuer geben, wie es heute eine Einkommenssteuer gibt?

Haben Sie noch mehr Anregungen?

In meinem Land gibt es 250 Zeitdollar-Projekte. Es handelt sich dabei um eine Parallelwährung, die ganz auf der Zeit basiert. Für jede Stunde Arbeit erhält man einen Zeitdollar, für den man wiederum Waren oder Dienstleistungen kaufen kann. Die Idee dahinter ist, das in einer sozialen Gemeinschaft jenseits von Gewinnmaximierung die Zeit eines jeden von uns gleich wertvoll ist – sei er nun Arzt, Müllmann oder Taxifahrer.

Und das soll im großen Stil klappen? Das klingt sehr utopisch.

Wir brauchen ja gerade Utopien. Generationen von Ökonomen haben sich damit beschäftigt, die Marktwirtschaft zu analysieren und Vorschläge zu machen, wie sie besser funktionieren könnte. Dabei ist der Mensch aus dem Blickpunkt geraten. Es ist doch so: Die Globalisierung hat versagt.

Warum hat sie versagt?

Weil sie zu viel Geld von unten nach oben verteilt hat. Die 356 reichsten Familien besitzen heute 40 Prozent des Reichtums der Menschheit. Diese Entwicklung führt uns in den Abgrund. Wenn die Unternehmen die Löhne immer weiter drücken, wird irgendwann niemand mehr ihre Produkte kaufen. Das ist so logisch, dass es eigentlich jeder verstehen müsste. Was wir brauchen, ist eine Reglobalisierung, bei der die Bedürfnisse der Mehrheit im Vordergrund stehen, nicht die Gewinnspannen einer kleinen Minderheit. Der technische Fortschritt lässt sich nicht aufhalten. Ich sehe zwei Alternativen für unsere Zukunft. Die eine ist eine Welt mit Massenarmut und Chaos. Die andere ist eine Gesellschaft, in der sich die von der Arbeit befreiten Menschen individuell entfalten können.

Das Ende der Arbeit kann für die Menschheit einen großen Sprung nach vorn bedeuten. Wir müssen ihn aber auch wagen.
 
Finde ich sehr interessant das ganze, vor allem da hier bestimmt ein Körnchen Wahrheit (wenn nicht die volle Wahrheit) drin steckt.
 
D'Espice schrieb:
aus diesem Posting

Finde ich sehr interessant das ganze, vor allem da hier bestimmt ein Körnchen Wahrheit (wenn nicht die volle Wahrheit) drin steckt.

genau dies macht einen großteil meiner unzufriedenheit mit den heutigen grünen aus: vor jahren wurde genau dies noch dort diskutiert, nämlich der sinn und wert von arbeit. auch die maschinensteuer war in den 80ern dort thema, ist es auch heute wieder über den begriff "wertschöpfungsabgabe" (selber googeln) )aber was soll es, die diskussion beginnt ja wieder, nicht nur dort. das schlagwort dafür lautet: schluß mit dem versprechen von vollbeschäftigung!

es geht darum, ein menschenwürdiges, sinnvolles leben zu erreichen, ohne sich nur über das arbeitseinkommen zu definieren. genau in diese richtung ging der sozialstaat. aber dieser wird ja von den "kriegs-"gewinnlern der arbeitsrationalisierung zerstört.

zu den non-profit-jobs gehören z.b. auch die sogenannten sozialen, wie pädagogik, altenpflege, behindertenbetreung, krankenhaus usw. usf. alles sachen, wo seit jahrzehnten immer mehr gespart wurde und wird, immer mehr menschen ihren job verlieren, da er ja zu teuer und unproduktiv sei. als seien sie in der arbeitslosigkeit produktiver, als hätten sie als arbeitslose das geld zum konsum...ein teufelskreis, welcher im gange gebracht wurde, weil nach ´89 "der" kapitalismus meinte, keine rücksicht mehr nehmen zu müssen und sich aller kosten entledigen will, die keinen monetären profit versprechen... dazu gehört übrigens auch die "schöne" idee, arbeitslose für 1€ schaffen zu lassen: senkt nur die kosten für den arbeitsgeber, erhöht also nur seine profite. und killt im sozialen bereich automatisch reguläre jobs, von denen ein mensch auch leben kann...
 
Wo sind die Millionen?

Der Volkswirtschaft fehlt es nicht an Geld, und trotzdem muß allerorten gespart werden. Die Knete geht für Zinsen drauf.

Gemeinden schließen Bibliotheken und Schwimmbäder - Bonn kürzt den Sozialstaat - Nürnberg spart an den Geldern für die Arbeitslosen - die Rentenbeiträge steigen... Solche Meldungen kann man fast täglich in der Zeitung lesen. Doch die Einsparungen an allen Ecken und Enden reichen nicht aus, zudem verscherbeln Bund, Länder und Gemeinden auch noch ihr Tafelsilber: Post, Bahn, Telekom, Lufthansa und vor allem Immobilien. Und weil auch das nicht ausreicht, werden immer höhere Schulden aufgetürmt, die wegen ihrer Zinsbelastung die Engpässe wiederum vergrößern. Allein der Bund muß bereits ein Viertel seiner Einnahmen für den Zinsendienst aufbringen - weit mehr als für die vielgeschmähten Militärausgaben. Doch wie kommt es zu dieser Ebbe in den öffentlichen Kassen? Geht die Wirtschaftsleistung zurück, wird unser Land ärmer? Das kann es nicht sein. Von 1980 bis 1996 haben wir unser Sozialprodukt real um 50 Prozent gesteigert. Und auch in diesem Jahr wächst die Wirtschaft um mehr als zwei Prozent. Zwei Prozent Wachstum heute aber sind in absoluten Mengen soviel wie zehn Prozent in den fünfziger Jahren. Noch günstiger sieht die Sache bei den Geldvermögen aus. Diese haben von 1980 bis 1996 real sogar um 123 Prozent zugenommen; Tag für Tag wachsen sie inzwischen um 1.3 Milliarden Mark an. Allein die Zinseinnahmen dieser Geldvermögen liegen bei 1 Milliarde täglich. Wie aber ist es möglich, daß angesichts dieses ständigen Leistungs- und Reichtumswachstums die Armut bei uns um sich greift?

Das Problem liegt in der Verteilung

Wenn man einen ausreichend großen Kuchen unter einer gleichbleibenden Zahl von Essern aufteilt, braucht niemand Hunger zu leiden. Schneidet aber jemand vorab ein größeres Stück heraus, bleibt den anderen weniger übrig. Es sei denn, sie backen einen größeren Kuchen. Wachsen die Ansprüche jenes Nimmersatten jedoch rascher, als man den Kuchen größer backen kann, werden - trotz des immer größeren Kuchens - die Hungerleider immer mehr.

Genauso ist es in der Wirtschaft: Unser Leistungskuchen - das Sozialprodukt - wird jedes Jahr zwischen Kapital und Arbeit aufgeteilt. Allerdings steht der Anteil des Geldkapitals schon von vornherein fest: Er resultiert aus Kapital mal Zinssatz. Da aber die Geldvermögen seit 30 Jahren rascher wachsen als die Wirtschaftsleistung, fallen die Arbeitseinkommen bei der Aufteilung des Wirtschaftskuchens relativ immer mehr zurück.

Sind die Zinssätze hoch, explodieren Zinserträge und Zinsbelastungen. So mußten beispielsweise die produzierenden Unternehmen 1992 mit durchschnittlich etwa 12.000 Mark je Arbeitsplatz doppelt soviel an Zinsen aufbringen wie vier Jahre zuvor. Hochverschuldete Unternehmen wurden und werden dadurch zu Zehntausenden in den Konkurs getrieben, die anderen zu Einsparungen bei Investitionen und Lohnkosten gezwungen. Die Arbeitslosigkeit erreicht jeweils ein bis zwei Jahre nach dem Zinsgipfel ihren Höhepunkt.

Konjunktureinbruch und abnehmende Beschäftigung schlagen sich wiederum in den öffentlichen Kassen als rückläufige Steuereinnahmen nieder. Verstärkt werden diese Engpässe noch durch krisenbedingt ansteigende Sozialkosten. Vor allem aber schlägt der rasante Anstieg der öffentlichen Schuldenzinsbelastung zu Buche, da mit den höheren Zinsen auch der Zwang zur Verschuldung wächst.

Abzumildern sind diese steigenden Belastungen nur durch ein weiteres Wachstum der Wirtschaft - gleichgültig, ob dabei die Umwelt auf der Strecke bleibt. Denn den Politikern bleibt heute nur die Wahl: Entweder ohne Wachstum in den sozialen oder mit Wachstum in den ökologischen Kollaps. Da jedoch das Wirtschaftswachstum schon lange nicht mehr mit dem der Geldvermögen und Zinsströme mithalten kann, steuern wir auf beides zu.

Wie kommt es zu der Überschuldung?

Schulden können immer nur im Gleichschritt mit den Geldvermögen zunehmen. Denn leihen kann man immer nur von einem, der etwas übrig hat. Doch die ständig wachsenden Geldvermögen bieten nicht nur Möglichkeiten zu weiteren Verschuldungen, sie zwingen auch dazu. Denn wird das übrige Geld aus den Kassen der Zinsbezieher nicht über Kreditaufnahmen in die Wirtschaft zurückgeführt, kommt es zu geldmangelbedingten Kreislaufunterbrechungen. Sind Unternehmen und Privathaushalte nicht ausreichend zu weiteren Kreditaufnahmen bereit, "dann muß der Staat das am Markt entstehende Kapitalüberangebot aufnehmen, weil anderenfalls eine deflationäre Wirtschaftsentwicklung einsetzen würde". Auf diesen Verschuldungszwang, speziell der öffentlichen Haushalte, hat schon vor einigen Jahrend der Wirtschaftsprofessor Rüdiger Pohl, einer der "fünf Wirtschaftsweisen", in der ZEIT hingewiesen.

Und warum eskalieren die Geldvermögen?

Entscheidend für das Überwachstum von Geldvermögen und Schulden ist der Tatbestand, daß die Zinssätze seit Jahrzehnten über den Wachstumsraten der Wirtschaft liegen. Das ist nur möglich, weil sich der Zins im Gegensatz zu allen anderen Marktpreisen den Kräften von Angebot und Nachfrage entziehen kann. Denn sinkt der Zins unter eine bestimmte Grenze, verknappen die Geldhalter einfach ihr Angebot, indem sie zum Beispiel in Spekulationen und liquide Kassenhaltungen ausweichen und damit ein weiteres Absinken verhindern.

Wer zahlt die Zinsen?

Im allgemeinen wird angenommen, daß nur derjenige Haushalt Zinsen zahlen muß, der selbst einen Kredit aufgenommen hat. In Wirklichkeit aber müssen die Privathaushalte beziehungsweise Endverbraucher auch für die Schuldenzinsen der Unternehmen und des Staates geradestehen. Denn die gesamten Kapitalkosten der Unternehmen gehen in die Produktpreise genauso ein wie die Personal- und Materialkosten. Bei den öffentlichen Haushalten stecken sie in allen Steuern und Gebühren. Rechnet man die schuldenbezogenen Zinslasten in Arbeitszeiten um, dann mußte 1950 jeder Erwerbstätige etwa drei Wochen im Jahr für deren Bedienung arbeiten, 1970 sieben und 1990 elf Wochen. Für 1995 kann man bereits von einem 25prozentigen Abfluß aus den verfügbaren Einkommen ausgehen und damit einer erforderlichen Arbeitszeit von einem Vierteljahr. Dabei ist bisher nur von den Zinsen für das Geldkapital die Rede. Addiert man die den Zinsen entsprechenden Erträge aus Sachkapital, etwa Immobilien oder Maschinen, noch hinzu, dann kann man davon ausgehen, daß von jedem ausgegebenen Hundertmarkschein 40 Mark in die Kassen der Zinseinnehmer fließen.

Gewinner und Verlierer

Natürlich stehen diesen von den Privathaushalten zu tragenden Zinslasten auf der anderen Seite auch Zinseinkünfte gegenüber - fragt sich bloß, bei wem. Teilt man die gesamten bundesdeutschen Haushalte in zwei Hälften, dann besitzt die ärmere Hälfte nur vier Prozent der Geldvermögen, die andere Hälfte 96 Prozent. Verrechnet man die Zinslasten und Zinseinkünfte gegeneinander, dann ist der Saldo bei acht von zehn Haushalten negativ und bei dem neunten Haushalt ausgeglichen. Nur bei dem zehnten Haushalt ist er positiv. Das heißt, dieses letzte reichste Zehntel der Haushalte ist der Gewinner dieses Zins-Monopoly-Spiels. Ob man Gewinner oder Verlierer ist, kann jeder leicht nachrechnen. Er braucht nur seine jährlichen Zinserträge mit jenen 40 Prozent seiner jährlichen Ausgaben zu vergleichen, die er als Zinsverlust verbuchen muß. Oder nach einer anderen Faustregel: Um diese Zinsverluste auszugleichen, benötigt man ein zinsbringendes Vermögen, das dem Sechs- bis Siebenfachen der gesamten Jahresausgaben entspricht. Entgegen immer wieder zu hörenden Behauptungen fehlt es in unserer Volkswirtschaft also nicht an Geld. Es sammelt sich aufgrund der zinsbedingten Wirkungsmechanismen nur immer mehr bei jenen an, die bereits viel davon haben. Der Hamburger Sozialsenator Ortwin Runde hat schon vor zwei Jahren festgestellt, daß in seinem Stadtstaat die Zahl der Millionäre und die der Sozialhilfeempfänger am raschesten zunimmt.

"Die Zinsausschüttungen der Banken an die Geldgeber stiegen von 1988-92 um 101 Prozent, nämlich von 171 auf 344 Mrd. DM. Man stelle sich einmal vor, die Einkommenssteuern oder die Gesundheitsausgaben - Posten vergleichbarer Größenordnung - würden in 3 - 4 Jahren verdoppelt oder die Löhne und Gehälter um 80 oder 100 Prozent erhöht: Die Medien wären voll davon, und die Schlagzeilen würden in ihrer Größe alles andere übertreffen. Die vergleichbaren Explosionen der zinsbezogenen Größen wurden jedoch praktisch nicht zur Kenntnis genommen. Auch die Gewerkschaften rühren das Thema nicht an. Sie streiten vielmehr jedes Jahr lautstark und medienwirksam auf der Vorderbühne mit den Arbeitgebern um den Rest des Kuchens, den das Kapital den Werteschaffenden übriggelassen hat. Der entscheidende Deal auf der Hinterbühne, der sich an den genannten Größen festmachen läßt, steht dagegen nie zur Debatte. (...) Eines steht jedenfalls fest: Solange sich die Gewerkschaften nicht um unsere Geldordnung kümmern, kann die soziale Frage keiner Lösung zugeführt werden."

Helmut Creutz: Das Geld-Syndrom - Wege zu einer krisenfreien Marktwirtschaft

Der Text ist eine von Helmut Creutz im Dezember 1997 für die Thüringer Zeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft aktualisierte und ergänzte Fassung seines in der taz vom 30.05.1996 veröffentlichten Artikels.
 
und wer dann auch noch nicht genug hat, dem sei folgendes geschenkt:

http://www.inwo.de/modules.php?op=modload&name=News&file=article&sid=219

disclaimer:
nein, ich bin nicht mitglied beim inwo - aber es sind sehr gute aspekte, die dort angeschnitten werden, die man leider bei sudel-christel nie zu hören bekommt, sondern seit jahr und tag die leier wie schlecht es uns geht. uns? UNS? hallo, schlecht geht es denen, von denen andauernd verlangt wird, den gürtel noch enger zu schnallen... :o
 
Treverer schrieb:
aus diesem Posting
Interview
„Langfristig wird die Arbeit verschwinden“

US-Ökonom Jeremy Rifkin: Deutschland führt Scheindiskussion

Herr Rifkin, eines Ihrer Bücher heißt: „Das Ende der Arbeit“. Das meinen Sie doch nicht wörtlich, oder?

Allerdings meinte ich das wörtlich.
...
Welche Wahrheit meinen Sie?

Die Wahrheit über die Unumkehrbarkeit dieser Entwicklung. Langfristig wird die Arbeit verschwinden.
...

Wir vollziehen gerade einen Wandel hin zu einem Markt, der zum allergrößten Teil ohne menschliche Arbeitskraft funktioniert.
...
Jetzt geht es um Maschinen, die mit Maschinen reden. Der Mensch wird überflüssig.
...
Drei Pseudotheorien?

Immer dieselben drei, ja. Erstens: Wir verlieren in unserem Land Jobs, weil die bösen Unternehmer Stellen ins Ausland verlagern. Zweitens: Wir haben genug Jobs, die Leute sind nur nicht richtig ausgebildet. Und drittens: Wir haben zu wenig Jobs, weil die Sozialabgaben zu teuer sind. Alle drei Argumente sind absurd.
...
Weil ich das Ende der Arbeit vorhersage? Nein. Erstens: Ich ziehe nur logische Schlüsse aus Dingen, die ich in der Wirtschaft jeden Tag beobachten kann. Und zweitens: Ich halte das Ende der Arbeit durchaus für eine positive Sache.
...
Das Ende der Arbeit kann für die Menschheit einen großen Sprung nach vorn bedeuten. Wir müssen ihn aber auch wagen.

so was in der Richtung hab ich schon oft gesagt... Danke dass ich endlich bestätigt werde...
Aber diese "Utopie" ist ja nicht gerade neu... siehe Star Trek.... ;-)

Greetings
Laertes
 
sehr interessant.
in eine ähnliche richtung geht dieses buch.

es geht um jemanden, der eine billion dollar erbt. hört sich ganz gut an....aber mit der zeit merkt man, wie furchtbar der zusammenhang zwischen geld & zinsen ist.
 
Treverer schrieb:
aus diesem PostingWarum hat sie versagt?

Weil sie zu viel Geld von unten nach oben verteilt hat. Die 356 reichsten Familien besitzen heute 40 Prozent des Reichtums der Menschheit. Diese Entwicklung führt uns in den Abgrund. ... ... Was wir brauchen, ist eine Reglobalisierung, bei der die Bedürfnisse der Mehrheit im Vordergrund stehen, nicht die Gewinnspannen einer kleinen Minderheit.

in wenigen sätzen auf den punkt gebracht ... oder seh ich das falsch :P

edit:
vll wird sich das alles von selbst ergeben wenn irgendwann die heutigen "systeme" restlos zusammenbrechen und es einfach nicht mehr weitergeht
 
[³dgamer] schrieb:
aus diesem Posting

sehr interessant.
in eine ähnliche richtung geht dieses buch.

es geht um jemanden, der eine billion dollar erbt. hört sich ganz gut an....aber mit der zeit merkt man, wie furchtbar der zusammenhang zwischen geld & zinsen ist.

"eine billion dollar" - vom gleichen autor wie "das jesus video"...

in dem buch sind viele probleme und lösungsansätze thematisiert und es ist sogar spannend zu lesen, da man echt wissen will, was der typ denn nun macht mit seiner billion. das besonders gute an dem buch fand ich darin, daß man an die themen ökonomie und ökologie herangeführt wird, selbst wenn man mit dem grünen thema sonst nichts zu tun haben will (außer, indem man aufkleber "(ö)ko-steuer" ans auto heftet) :-))
 
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